Dr. Dr. Gert Mittring

Interview mit Dr. Dr. Gert Mittring

Gert Mittring hat mir an einem Fachgespräch in kleinem Kreis an der PHLU wirklich Eindruck gemacht. Muss ja so sein – wer kann sich schon 11-facher Kopfrechenweltmeister nennen? Der Mann mit den zwei Doktortiteln, aber keiner davon in Mathematik, hat mich durch seine fundierte Sicht auf Schulangelegenheiten und die empathische Haltung gegenüber hochbegabten Kindern beeindruckt. Dr. Dr. Gert Mittring hat Pädagogik und Psychologie studiert und während unserer Begegnungen war spürbar, dass für ihn die Theorie nicht grau, sondern lebbar ist. Es gibt unzählige Interviews mit ihm im Netz. Trotzdem hat er mir ein paar Fragen gewährt – und ich habe mich bemüht, nicht die ewig gleichen zu stellen. Die Transkription war ein bisschen tricky… wir schweiften ab, mäandrierten herum, um irgendwann wieder zur Quelle zu kommen. Aber es hat Spass gemacht – wenigstens mir 😉 .

Gert, du bist jetzt zwei Wochen für den EHK durch die Schweiz getourt, hast mit Kindern gerechnet und Fachgespräche geführt. Was reizt dich daran?

Nun, man hat mich vom Elternverein hochbegabter Kinder einfach angefragt und ich habe zugesagt … Ich mag es in der Schweiz zu sein, weil hier alles viel entspannter und auch sicherer ist als in Deutschland. Es ist – abgesehen von den Schiffsreisen, wo ich als Rechenkünstler die Leute unterhalte und animiere – das erste Mal, dass ich so eine lange Reise als Kopfrechenweltmeister gemacht habe. Schiffsreisen waren allerdings doch entspannter.

Also es ist tatsächlich das erste Mal, dass du so eine lange Tournee gemacht hast?

Abgesehen von den Schiffsreisen, ja. In diesem Ausmass habe ich das noch nie gehabt. Aber die Zusammenarbeit mit dem EHK, den ich seit 2013 kenne, war immer sehr solide, zufriedenstellend und verlässlich, sodass ich gefunden habe, das sei auf dieser Grundlage eine verantwortbare Sache, die wirklich was bringt. Gerade auch im Verbund mit den Lehrertreffen. Denn es gibt ja auch hier noch einiges zu tun in der Begabtenförderung.
Aber diese zwei Wochen täglich an einem anderen Ort waren schon anstrengend und ich bin jetzt, einen Tag nach den letzten Veranstaltungen, ziemlich geplättet.

Gab es ein Highlight auf deiner Schweizerreise?

Gerade gestern in Glarus gab es im Anschluss an das Rechnen mit den Kids wirklich Raum für substanziellen Austausch, der für mich sehr ergiebig war. Das war extrem bewegend, einfach zu sehen, wie es an Förderung für wirklich hochbegabte Kinder fehlt. Das Gespräch war dann für mich auch gehaltvoller als andere, weil es weit über das Mathe-Entertainment hinausging, das dann auch einmal ausgereizt ist.
Aber da wo es um Problemlagen geht, wo sich die Frage stellt, wie man wirklich helfen kann auch bei Akutfällen und Depressionen; das wurde dann auch für mich richtig intensiv. Ich hätte wohl schon vorher bei den Fachkräfte-Treffen mehr in Richtung Fallbesprechungen tendieren sollen. Man lernt halt immer wieder und passt Inhalte an.

Was siehst du als grösste Baustelle der Schule?

Im Prinzip die Durchlässigkeit auf allen Ebenen, auch für die Politik und Gesellschaft. Das gilt fürs ganze System, in dem die Schule nur ein Baustein ist. Es ist natürlich schon so, dass für die Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler (SuS) noch sehr viel zu tun ist. Dies ist ja auch bei uns (in Deutschland, Anmerkung DM) nicht umfassend gegeben. Es stellt sich auch die Frage, ob man die Durchlässigkeit für die höchstbegabten SuS nicht noch erhöhen müsste – in dem Sinn, dass sie auch nicht mehr so lange Zeit in der Schule verbringen müssen. Dazu müssen mit den richtigen Leuten Gespräche geführt werden. Denn diese Form von Akzeleration muss nicht zu Problemen, wie beispielsweise Diskriminierung, führen, wenn gut kommuniziert wird. Dann kann das auch alles vernünftig begleitet werden.

Zudem müssen wir auch schauen, dass wir den SuS nicht irgendwelche Sachen vorenthalten. Wenn die sich für irgendetwas interessieren, dann sollen die sich damit beschäftigen dürfen. Dann ist das in Ordnung. Auch wenn das inhaltlich für ältere, auch wesentlich ältere, vorgesehen wäre.

Also denkst du, dass das ganze System durchlässiger werden müsste, im Sinne von altersgemischtem Lernen (ADL)?

Auf jeden Fall. Aber vielleicht ist auch noch mehr Flexibilität nötig. Springen ist im heutigen System eine Begleiterscheinung für hochbegabte SuS. Aber wir müssen einfach schauen, dass wir mehr Durchlässigkeit erreichen können.

Wenn Kinder als 6-jährige im Tausender-Raum rechnen, kann es nicht sein, dass sie seitenweise Zweien aufschreiben müssen. Natürlich muss von der Graphomotorik her ein Minimum an Lesbarkeit gewährleistet sein. Bei cleveren Kindern, die mehr Übungsphasen in diesem Bereich brauchen, kann allenfalls auch ergotherapeutische oder psychomotorische Begleitung angezeigt sein.

Ein Skandal sind natürlich auch die langen Wartezeiten im therapeutischen Bereich, vor allem dann, wenn es „im Wald schon brennt“. Das war, wie schon erwähnt, auch gestern ein Thema: Suizidgefahr. Dass Leute, die schon nicht mehr weit davon entfernt sind, sich aus dem Leben zu verabschieden, noch monatelange Wartezeiten auf einen Therapieplatz aushalten müssen, ist einfach eine Katastrophe! Es müssten wenigstens Notfallsysteme etabliert werden, dass mindestens diejenigen Menschen, die kurz davor sind, sich aus dem Leben zu verabschieden, aufzufangen. Aber das System stösst an Grenzen. Das ist absolut tragisch!

Hast du ein bestimmtes Herzensprojekt?

Jaaa! Abgesehen von dieser Rechengeschichte und diesen Meisterschaften, die mir immer Freude machen, ist mir die Entwicklung von guten Testverfahren besonders wichtig. Das bedeutet natürlich eine immense Fleiss- und viel Forschungsarbeit.

Ansonsten liegen mir natürlich auch die höchstbegabten Kinder am Herzen. Mit denen zu arbeiten, ihre Interessen zu erspüren und mit ihnen zu reden, das macht schon sehr viel Freude.
Ich erinnere mich noch an eine Sache: Beim Landeswettbewerb der Mathematik bei uns um die Ecke in Rheinland-Pfalz, da waren in den letzten zwei Runden die besten 20 Teilnehmenden. Das waren nicht unbedingt die Hochleister, sondern das waren einfach die, die am Wettbewerb am besten abgeschnitten haben. Da hab ich gemerkt, die waren klasse. Das war toll! Da waren so 16-, 17-jährige, die waren extrem in Aufbruchstimmung und die waren auch allgemein so gut unterwegs. Das war ein Genuss, mit denen zu tun zu haben. Und solche aufgeschlossene, tollen Gruppen, das ist irre! (Er strahlt!)

Eine andere Sache, die ich auch gut gefunden habe, war die Sache mit der Haribo-Stiftung. Da hatten wir 200 besten Fast-Abiturienten aus Deutschland, z.T. auch schon Studenten, das war gemischt. Die waren auch sozial extrem engagiert und allgemein gut aufgestellt. Wir hatten da ein wunderbares Gesprächsklima gehabt. Da kann ich dann sagen, dass wir Grund zur Hoffnung haben! Wenn diese jungen Leute in irgendeiner Form Schlüssel-Jobs bekommen, dann ist das wunderbar.

Hilfst du diesen Menschen auch, sich zu vernetzen?

Das macht die Stiftung schon viel besser, als ich es könnte. Aber ich schaue mir das an. Ich möchte auch noch Unternehmen und Unternehmer mit Hoch- und Höchstbegabten zusammenbringen. Selbst wenn dann Unternehmensinteressen auch eine Rolle spielen, so denke ich, besser diese Kooperation als gar keine Kooperation.

Du hast gesagt „bessere Tests“ entwickeln“. Wie müssten denn diese angelegt sein?

Na ja, das ist ja das Dilemma mit der Item-Analyse, diese ganzen methodischen Problemlagen mit den Lösungsalternativen, Attraktoren und Distraktoren. Da wird einfach auch so viel rumgeschlampt. Es darf nicht passieren, dass man ohne Inspektion des Item-Stamms über 70 % der Aufgaben richtig lösen kann. Man muss da (auch als Testleitenede, DM) gut hinschauen und kritisch bleiben.

Aber um dir nochmals zu antworten: Ein Herzensprojekt sind natürlich auch die Kopfrechenmeisterschaften. Die Spitzenleute, mit denen zu reden, das ist natürlich schon was Tolles. Auch die Besten der Besten mal so versammelt zu haben, das ist schon beglückend.

Da kommst du auch in Resonanz…

Jaaa (strahlt), das ist wirklich etwas Wunderbares!

Du siehst, es gibt also einige Dinge, die mir am Herzen liegen.

Was würdest du Eltern, die vermuten, dass ihr Kind hochbegabt ist, raten?

Obwohl das Leben mit hochbegabten Kindern auch ganz schön herausfordernd sein kann, sollte man die Hochbegabung als Segen betrachten (schliesslich heisst „gifted“ ja auch beschenkt, Anm. DM). Wer gut hinschaut, was das Kind interessiert und diesen Interessen Raum gibt, macht schon vieles richtig. Wichtig ist, dem Kind keine geistigen Grenzen setzen, also nicht „das erklären wir dann später“, sondern wenn nötig Inhalte so herunterbrechen, dass sie dem Kind verständlich werden. Allerdings gilt es Balance und Mass zu halten und nicht in „Förderitis“ zu verfallen. Musse zulassen, zusammen entdecken, staunen, träumen ist ebenso wichtig.

Gibt es in eurer Familie noch mehr so „helle Köpfe“ wie dich?

Oh Gott! (lacht). Meine Zwillingsschwester, kognitiv völlig unauffällig, arbeitet als Altenpflegerin. Bei meinem Stiefbruder kann ich nichts dazu sagen. Ansonsten gibt es aus meiner Geburtsfamilie im schwäbischen Raum noch zwei Onkel väterlicherseits, die waren Unternehmer. Konnten demnach wohl auch gut mit Zahlen umgehen. Dem einen hat man sogar den Übernamen „Graf Zahl“ verpasst, der musste also wirklich ein gutes numerisches Verständnis haben.

Was machst du, um dein Gehirn fit zu halten?

Nun ja, Wochen wie die vergangenen zwei fordern mich ganz schön. Das Gehirn braucht viel Zucker, den konsumiere ich zwischendurch in Form von Schokolade und Cola.
Andererseits immer wieder mal eine paar „Rätselchen“… Für den Kopf ist so eine Tournee auch ganz gut, weil man auch immer wieder mal was erzählen, erklären und rechnen darf. Und ansonsten gibts da noch die IQ-Societies, wo man sich noch herumbewegen kann (TNS, Mensa).

Musik und Mathematik haben Gemeinsamkeiten. Lutz Jänke hat dazu Bücher verfasst. Wie hast du es mit der Musik?

Ja, die Bücher von Lutz Jänke sind interessant. Der hat auch ein grosses Wissen über Kognitionspsychologie und hat auch gute Lehrbücher dazu geschrieben. Dazu noch gute Bodenhaftung – alles bestens also. Zwischen musikalischen und mathematischen Fähigkeiten gibt es tatsächlich Korrelationen. Allerdings zeigt die Extremgruppenanalyse, dass diese im Bereich der Höchstbegabung die Korrelation nicht mehr so gross sind.

Ich persönlich liebe es, bei Opern oder Symphoniekonzerten in den Partituren mitzulesen. Das macht Spass und ist für mich noch ein bisschen ergiebiger als das blosse Zuhören, das natürlich auch schön ist. Aber der Genuss wird für mich noch gesteigert, wenn ich das Gespielte auch mitlesen darf.
Als ich ein Kind war, gab es bei uns Zuhause viele Partituren, die mich sehr fasziniert haben. Leider waren sie nach dem Tod meiner Eltern nicht mehr vorhanden. Aber es ist für mich heute wirklich ein Genuss im Konzert diese Partituren zu lesen und ich freue mich sehr, wenn ich diese Möglichkeit jeweils bekomme.

Spielst du ein Instrument?

Ja, leider erfolglos. Ich hatte alles probiert und ich hatte als Kind auch Trompeten-Unterricht. Allerdings stiess ich da im Bereich der Motorik an Grenzen, das war dann für mich ab einer bestimmten Stufe nicht mehr machbar. Triolen zum Beispiel stellten für mich auf der Trompete ein unüberwindbares Hindernis dar. Und nachdem ich mich mit dem Trompetenlehrer mal kräftig gefetzt habe, was das dann das Ende vom Lied.
Mittlerweile bin ich vor allem Musikkonsument.

Verrätst du noch deine nächsten Ziele oder Pläne?

Im Moment habe ich keine konkreten Pläne, ich bin eigentlich hochzufrieden, wie es gerade ist. Vielleicht schaffe ich es auch, etwas mehr zu geniessen und zu entspannen als bisher. Das wäre eine gute Sache!

Lieber Gert, ich danke dir ganz herzlich für deine offenen Antworten und deine Zeit!

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