Über das Lernen

Im Buch “Weltwissen der Siebenjährigen” 1 beschreibt die Autorin Donata Elschenbroich, wie viele Dinge Kinder vor ihrem Eintritt in die Schule schon gelernt haben- durch das Gezeigtbekommen von Eltern und Geschwister, durch das Nachahmen, durch pure Explorationslust. Das, was wir so gemeinhin als Spielen bezeichnen, ist für das Kind freudiger Ernst- es lernt. Lernen ist Ausprobieren, ist Hinfallen und wieder Aufstehen. Dazu gehört es auch, mal in den Matsch zu stolpern oder einen Stiefel voll Wasser aus dem Bach zu ziehen. Schmutzige Hände und hin und wieder einen Riss in den Hosen sind genauso Teil der kindlichen Entwicklung wie aufgeplatzte Knie. Wer seinen Kindern nichts zutraut und sie die ganze Zeit “behelikoptert”, beraubt sie ganz wichtiger Erfahrungen, Erfahrungen, die ihnen auch später beim Lernen helfen- auch wenn der Zusammenhang nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Es hat mit Selbstwertgefühl zu tun, Dinge selber zu schaffen, wenn auch vielleicht erst im dritten oder vierten Anlauf. Selbstverständlich dürfen Eltern helfend zur Seite stehen und natürlich sollen sie aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrung auch mal ein kategorisches Nein aussprechen. Dafür sind sie auch da und glauben Sie mir, wir haben heute zu viele Kinder, die bis zum Eintritt in eine Bildungsinstitution noch nie ein liebevolles, aber konsequentes Nein erfahren haben! Es ist letztlich eine Gratwanderung, wie viel man seinem Kind zutrauen, erlauben oder verbieten soll. Als Mütter sind Sie, geschätzte Leserinnen, Expertinnen für Ihre Kinder.

1) Donata Elschenbroich, Weltwissen der Siebenjährigen, Goldmann, 2002

Lernen ist Beziehungssache

Die Hattie-Studie hat 2007 bestätigt, was zuvor bereits viele andere Untersuchungen zeigten und viele von uns aus eigener Erfahrung wussten: Der Lernerfolg steht und fällt mit der Beziehung zur Lehrperson. Wir alle erinnern uns im Gegenzug zu den oben angesprochenen Lehrpersonen, die uns das Lernen vermiest haben, auch an diese eine Lehrerin, diesen einen Lehrer, bei dem uns das Lernen leicht fiel, weil wir uns wahrgenommen fühlten, weil der Lehrer einen wunderbaren Humor hatte oder die Lehrerin wertschätzende Ruckmeldungen gab … Und wir uns einfach wohlfühlten.
Vor allem bei jungen Kindern, die oft extrinsisch, also von aussen heraus motiviert, lernen, spielt die gute Beziehung zur Lehrperson eine ganz grosse Rolle. Man lernt also eigentlich “für jemanden” um sich Lob, Liebe, Anerkennung zu erkaufen. Das ist nicht per se schlecht, aber natürlich ist es wünschenswert, wenn sich dies im Laufe der Zeit verändert und in einen eigenen selbstmotivierten Prozess wandelt. Diese intrinsische Motivation sollte auch bei Erwachsenen Antrieb für erneuten Wissenszuwachs sein- und nicht primär die Aussicht auf den Porsche oder den Bonus… Und es ist bei Weitem nicht so unreif, wie das vielleicht jetzt klingen mag: Auch bei Erwachsenen spielt die Beziehungsebene beim Lernen mit. Immer noch. Wir Menschen sind soziale Wesen und auch wenn wir als Erwachsene weniger auf andere angewiesen sind als zu Kinderzeiten, so fällt uns das Lernen doch leichter, wenn wir uns wohl und entspannt fühlen dürfen.

Lernen muss Sinn machen

Wenn wir Erwachsene uns dafür entscheiden, etwas Neues zu lernen, dann höchstwahrscheinlich darum, weil wir entdeckt haben, dass uns dies auf beruflicher oder privater Ebene weiterbringt. Eine Sprache beispielsweise, weil ich einen Auslandaufenthalt plane, eine Sportart, weil ich etwas für meine Fitness tun will- oder schlicht und einfach, weil ich dabei Spass haben kann und flow-Momente erlebe.
Kinder aber werden in den allerseltensten Fällen gefragt, ob das, was sie in der Schule lernen, wirklich von Interesse für sie ist. Im schlimmsten Fall gehen die vermittelten Inhalte völlig an ihren Lebenswelten vorbei. Bezugspersonen können dies ein Stück weit vermeiden, indem sie zuhause Brücken zu den schulischen Inhalten schlagen: Indem daheim gemeinsam gelesen wird, beim Spielen das Kind die Punkte zusammenzählen darf oder eine Gegend, die im Geografie- oder Geschichtsunterricht behandelt wird, besuchen. Manchmal aber ist es tatsächlich so, dass schulische Inhalte weder Geist, Intellekt noch Seele eines Kindes wirklich berühren, was mir im Herzen weh tut. Vielleicht werden Sie jetzt sagen: «Das ist nun halt mal so, das war zu unserer Schulzeit auch nicht anders, die sollen mal nur nicht so verweichlicht tun.» 

Verbindungen zu Lebenswelten

Wenn wir jedoch einen Blick zurückwerfen, stellen wir fest, dass es Schulen noch gar nicht so lange gibt. Zuvor lernten die Kinder von ihren Eltern, sei es ein Handwerk oder häusliche Tätigkeiten, einfach das, was aus dem Lebensmittelpunkt der Familie entsprach. Zweck der Schulen war früher nicht, wie wir das heute erwarten dürfen, Kindern zu zeigen, was das Leben für Möglichkeiten bietet und wie sie ihre Potenziale entfalten dürfen. Nein, es ging darum, Menschen heranzuziehen, die fähig waren, die Arbeiten in den Fabriken auszuführen, die grossen Maschinen zu bedienen, die unweigerlich den Takt vorgaben. Schulen hatten eine ganz andere Aufgabe als heute- es waren, dies nur am Rand bemerkt, auch ganz andere Kinder mit ganz anderen Lebenswelten als die heutigen. Und das ist auch einer der Knackpunkte der heutigen Schulen: Die Verbindung mit dem Leben draussen. 
Es gibt und gab immer schon engagierte Lehrpersonen, die sich bemühen, den Wesenskern des Kindes zu erfassen, es da abzuholen, wo es gerade in diesem Moment steht, es auf den Sinneskanälen lernen zu lassen, die ihm am besten entsprechen. 
Aber dann stellt sich immer noch die Frage: Was lernen?  Ich weiss von Schulen, die es aushalten, dass ein Kind auch nach drei Jahren Schulbesuch nicht lesen lernen will. «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», besagt ein afrikanisches Sprichwort. Man könnte den Gedanken auch weiterspinnen und sich überlegen, was denn mit dem Gras passiert, wenn man daran zieht. Genau, es verliert den Halt, es wird entwurzelt, bekommt keine Nahrung mehr…Das ist bestimmt nicht das, was sich Eltern für ihre Kinder wünschen, dieser Preis ist definitiv zu hoch. Gibt man dem Gras aber Dünger, dann wächst es auch auf kargem Grund. “Und wie hat denn dieser Dünger auszusehen?”, fragen sich alle an der Schule Beteiligten. Ich glaube, dass der beste Dünger sind einerseits reale Vorbilder und andererseits Neugier und Begeisterung. Wenn ich als Lehrperson oder Eltern vorlebe, dass mich ein Thema fasziniert, kann dieser zündende Funken auch auf Kinder überspringen und etwas, was vorhin noch spröde und trocken da lag, zum Lodern bringen. Wenn Fragen so gestellt werden, dass Kinder nicht nur reproduzieren müssen, sondern echt ins Beobachten und Forschen kommen, dann passieren da Lernmomente, deren Lunten ein Leben lang brennen. 

Lernen im digitalen Zeitalter

Die Lebenswelten der heutigen Kinder sind von digitalen Medien durchdrungen. Ob dies nun positiv ist, bleibe mal dahingestellt. Wenn ich junge Mütter sehe, die mit einer Hand den Kinderwagen schieben und sich mit der anderen Hand das Handy vor die Nase halten, finde ich das schon bedenklich. Treffen sie dann eine Kollegin, wird das Handy mit einem You Tube Kids –Filmchen einfach ans Kleinkind weitergereicht. Wie praktisch.
Wie oben erwähnt, wurden die Generationen vor uns zu «fabriktauglichen» Kindern herangezogen. Jetzt, im Zeitalter der Digitalisierung, müssten also die Kinder auf diesen Fähigkeiten geschult werden. “Macht es denn überhaupt noch Sinn, dass die Kinder von Hand schreiben lernen, all diese mühsamen Stunden, in denen sie schön in die Häuschen schreiben müssen, ist denn das überhaupt noch zeitgemäss?”, mag sich die eine oder andere von Ihnen fragen. Meine Antwort ist ein klares Ja, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, dass sich auch die Schreibmethodik verändert hat und der Anspruch auf akkurate Buchstaben drastisch abgenommen hat. Kinder lieben es, einander oder auch ihren Lieben Briefchen zu schreiben, ihre Zeichnungen zu beschriften… und stellen Sie sich mal vor, sie bekommen einen Liebesbrief, der am Computer geschrieben worden ist. Der mag grafisch noch so schön sein, aber irgendwie wirkt er doch einfach viel steriler als ein handgeschriebener- oder etwa nicht?
Klar, der Computer kriegt seinen Platz in der Schule und die Kinder lernen früh und unkompliziert den Umgang damit, das scheint mir auch absolut richtig. Aber, und da kommt ein grosses Aber: Lernen ist ein so vielschichtiges Konstrukt und findet, wie schon bei Donata Elschenbroich erwähnt, auf so vielen Ebenen statt, dass es einfach nicht bloss an einen Computer abdelegiert werden kann. Natürlich macht es Spass, mit dem Blitzrechen-Programm zu zeigen, wie schnell man das Einmaleins kann und es ist auch weniger frustrierend, ganz neutral einen Fehler angezeigt zu bekommen, als wenn die Eltern sich vielsagend über dem Kopf des Kindes ansehen und verdecktversteckt die Augen rollen. Doch wichtig ist, die drei Ebenen des Lernens im Kopf zu behalten:

Das Eis-Prinzip
Der Psychologe Jérôme Bruner stellte die These auf, dass für jedes Lernen, besonders aber in der Mathematik, die drei Darstellungsebenen „enaktiv-ikonisch-symbolisch“, die sich gegenseitig ergänzen, von entscheidender Bedeutung sind. 
Enaktiv: Handeln am konkreten Objekt
Wichtig ist es, sich vorab mit Blick auf die mathematischen Lernziele konkret die Handlungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler zu überlegen. Welche Erfahrungen können gemacht werden? Was bietet sich im Hinblick auf einen stimmigen Übergang zu anderen Darstellungsebenen an? 
Ich erkläre dies am Beispiel des Kreises: Es ist nicht das Gleiche, einen Kreis zu zeichnen, indem ich den Umriss eines Tellers umfahre, einen Zirkel benutze oder Faden und Stift. Im ersten Fall spüre ich die Form, ich kann die Linie „ohne Knicke“ erzeugen. Die Eigenschaft eines Kreises, dass die Menge aller Punkte, welche die Linie bilden, von Mittelpunkt den gleichen Abstand haben, wird hier nicht direkt erfahrbar. Das gelingt mit dem Zirkel oder der „Faden-Methode“ besser. 
Ikonisch: Sachverhalte im Bild darstellen
Das Bild einer Pfeife ist keine Pfeife. Mit dieser simplen Feststellung hat René Magritte die Betrachter seines berühmten Werkes verblüfft (Der Verrat der Bilder). So ist auch das Bild eines Apfels kein Apfel, ebenso wenig wie ein Foto eines Apfels oder die abgewickelte Schale. 
(Allerdings wird in der Linguistik wird z. B. das Wort „Kuckuck“ als ikonisch bezeichnet, weil es den gemeinten Vogel durch seine Laute nachahmt.)
Skizzen, genaue Zeichnungen  oder Flemo- Darstellungen helfen, Situationen zu erkunden. 
Symbolisch: Arbeiten auf abstrakter Ebene 
Im symbolischen Modus werden sprachliche oder numerische Darstellungen benutzt, um eine Aufgabe darzustellen und im Kopf zu lösen. Kann ein Kind die Aufgabe 7 + 5 ohne Hilfsmittel im Kopf rechnen oder sind wir in der Lage, die Aufgabe 545 x 873 so aufzuschreiben, dass die Aufgabe schrittweise in zahlreiche Kopfrechenaufgaben gegliedert und am Ende korrekt gelöst wird, wird die gestellten Aufgaben auf symbolischer Ebene gelöst. Zwar werden allenfalls Hilfsmittel wie Papier und Bleistift benutzt, aber diese sind bloss Hilfen, die keine analoge Ähnlichkeit mit den Aufgabenstellungen haben und können hochgradig verallgemeinert eingesetzt werden und auf diese Weise die Leistungsfähigkeit deutlich steigern.

Und zumindest zwei diese drei grundlegenden Ebenen des Lernens können definitiv nicht an den Computer abgegeben werden.

Lernen im Schlaf

Es ist bekannt, dass Stress für das Lernen äusserst kontraproduktiv ist und Entspannung sehr zielführend sein kann. Allerdings macht es sich schlecht, während einer Vorlesung oder eines Vortrages einzuschlafen… Und das, obwohl Schlaf doch lernförderlich ist. Doch beginnen wir von vorne:
Nicht nur während der Fussball-Europameisterschaft schauen einen morgens um 8.15 im Schulzimmer erschreckend viele übernächtigte Kinderaugen an. 
Es wäre mehr als nur wünschenswert, wenn Eltern durchsetzen könnten, dass ihre Kinder am Morgen ausgeschlafen an ihren Pulten sitzen würden. Aber leider unterschätzen viele Erziehungsberechtigten das Schlafbedürfnis ihrer Sprösslinge oder aber sie scheuen den Kampf, die Kinder zur passenden Zeit ins Bett zu bringen. Ein Kampf notabene, der sich nach einer gewissen Durststrecke durchaus in ein eingespieltes Zubettgehritual verwandeln kann. 
Bei Pubertierenden sieht die Sache leider schon wieder anders aus: Das Hormonchaos verschiebt den Wach-Schlaf-Rhythmus dermassen, dass der Unterricht besser erst eine Stunde später anfangen würde. Aber bis diese theoretische Erkenntnis Eingang in die Praxis der Volksschulen findet, wird es leider wohl noch eine Weile dauern….
Bei uns Erwachsenen hat sich in den letzten Jahren zum Glück die Einsicht durchgesetzt, dass es höchstens ein Zeichen von schlechtem Zeitmanagement und unausgewogener Work-Life-Balance ist, wenn man sich damit brüstet, dass man pro Nacht nur 4 Stunden in Morpheus’ Armen liegt.
Was aber macht denn den Schlaf fürs Lernen so wichtig?
In den Schlafphasen kann das Hirn ohne von neuen Eindrücken und Impulse bombardiert zu werden, die Empfindungen und Erkenntnisse des vergangenen Tages noch einmal neu ordnen. Es scheint sich in diesem Zustand den Wissenszuwachs quasi neu zu strukturieren und Impulse zu verarbeiten. Neurologen konnten sogar feststellen, dass während dieser Prozesse jene Synapsen, die beim Lernen im Wachzustand aktiv waren, erneut angeregt werden.
Dieser Effekt kann sogar noch gesteigert werden, wenn unmittelbar vor dem Schlafengehen der relevante Stoff wiederholt wird und man sich gleichzeitig darauf programmiert, dass man diese Inhalte auch am nächsten Tag noch präsent haben will.

Das Fazit dieser Ausführungen ist ebenso einfach wie bequem: Für Erwachsene und Kinder ist es gleichermassen von Vorteil, wenn das Lernen von kurzen Pausen oder Nickerchen von maximal 15-20 Min., also bevor man in die Tiefschlafphase abtaucht, unterbrochen wird. Dies versetzt das Hirn immer wieder von Neuem in Aufnahmebereitschaft.

Lerntechniken

Es  wird immer wieder Kinder geben, die sich  gegen das Erlernen von Lerntechniken sträuben- es liegt an uns Erwachsenen, ihnen aufzuzeigen, dass es  sich lohnen kann, sich Lernstrategien anzueignen. Denn gerade Kindern, denen das Lernen als Schüler*innen oder auch gar Student*innen sehr leicht gefallen ist, können davon profitieren, weil einem in der Regel ab einem gewissen Alter leider nicht mehr alles nur  «zufliegt».

In einem meiner letzten Blogs hier findet man auch  eine kleine Auflistung von praktischen Lerntipps und entsprechender Literatur.

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