Was erleben hochbegabte Kinder in Zeiten von Corona?

Das Leben in Europa, ja auf der ganzen Welt, hat sich verändert. Nach dem Lock down Mitte März haben die öffentlichen Schulen ihren Betrieb unter strengen Vorkehrungen wieder aufgenommen. Das sorgfältige Abwägen zwischen Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte und Gesundheitsschutz bestimmt die öffentliche Diskussion. Dabei darf auch die Frage gestellt werden, ob denn all die Massnahmen wirklich gesundheitsschützend sind. Mein Ausführungen berücksichtigen auch hochbegabte Kinder in Zeiten von Corona.

Lebensdurchdringender Wandel

Mein Beruf, meine Berufung, bringt es mit sich, dass ich in engem Kontakt mit Kindern, bei denen eine hohe Begabung diagnostiziert oder vermutet wird, stehe. Ich bekomme hautnah – oder unterdessen mit 1,5 m Abstand – mit, wie diese Kinder auf das Aufheben von Alltagsroutinen reagieren. Die zwischenmenschlichen Kontakte sind durch räumlichen Abstand, der schützten soll, geprägt. Schutzmasken dominieren den Alltag und in den Medien ist das Thema „Corona“ omnipräsent.
Dieser lebensdurchdringende Wandel von allem, was sakrosankt und sicher schien, ist in Windeseile über die Bühne gegangen.

Das Kuscheltier hilft mit, die Situation ein wenig erträglicher zu machen

Hochbegabt und hochsensibel

Für hochbegabte und/ oder hochsensible Menschen ist die aktuelle Situation ungleich anspruchsvoller ist als für alle anderen. Denn sie nehmen die derzeitige Situation mit allen Sinnen mehrdimensional wahr und sind meist empfänglicher für Schwingungen in ihrem Umfeld.
Dass viele Kinder nicht nur mit einer Hochbegabung beschenkt worden, sondern gleichzeitig auch hochsensibel sind, ist erhärtet . Das ist keine Esoterik, zudem deckt es sich einfach mit dem, was ich in jahrelanger Zusammenarbeit mit hochbegabten Kindern erlebt habe.
Erste Ergebnisse psychologischer Studien weisen bereits auf eine Korrelation von Hochsensibilität und Depressionen durch Coronaschutzmassnahmen und Angstszenarien hin[1]

Psychologin Kind auf Coach weint
Die Kinderpsychiater sind überlastet

Bilder aus den Medien dringen ins Herz

Viele Kinder nehmen die täglichen Bilder von Menschen mit Hygienemasken tief in sich auf. Medienberichte von Menschen im Krankenhaus, Menschenschlangen vor Einkaufsläden, Menschenansammlungen auf Demonstrationen gehören zum täglichen Newsstandard. Die ausgeprägte visuelle Verarbeitung des hochbegabten, hochsensiblen Gehirns nimmt die Flut von Bildern in den Medien nahezu ungefiltert wahr. Da gibt es keine Firewall, alles wird aufgenommen und schreit irgendwann nach Verarbeitung.
Angsteinflössende Ausdrücke wie „Pandemie“, „Durchseuchung“ und „Sterberate“ sind normal geworden. Viele hochsensible Menschen sind damit deutlich mehr belastet, weil es für sie wesentlich schwieriger ist, sich gegen das Leid des anderen abzugrenzen.
Zudem sind auch die moralischen Ansprüche gewachsen, weil jede persönliche Entscheidung zu einer potenziell gesellschaftspolitischen Frage mutiert: Disziplin, Meinungsfreiheit, Solidarität… Vieles, was man vor Covid-19 mit sich selber ausmachen konnte, bekommt jetzt eine grosse Tragweite.

Hochbegabte Kinder erleben sich als Bedrohung

Kinder erleben sich in diesem Zeiten zum ersten Mal als Bedrohung für andere Menschen. Sie stossen auf ablehnende Reaktionen von ängstlichen Mitmenschen, die sie ständig an Abstands- und Hygieneregeln erinnern. Zudem lassen Gesichtsmasken die Mimik des Gegenübers unlesbar werden und führen zu Verunsicherung. Übrigens auch bei Tieren, dies nur eine Bemerkung am Rande).

Nicht nur hochbegabte erwachsene Menschen zeichnen sich durch die Fähigkeit zu antizipatorischem Denken aus, was dazu führen kann, Angstszenarien virtuos bis zum Katastrophenfall durchzuspielen. Bereits junge Kinder sind dazu fähig. So hat mir im April 2020 ein neunjähriger Junge, dessen Augenringe ihn fast wie einen Pandabären aussehen liessen, auf meine Frage, wie es ihm denn gehe, erklärt: „Ich sorge mich nachts um meine Nonna in Italien. Sie ist jetzt in Quarantäne. Dabei ist sie erst 60 und wenn sie jetzt die Möglichkeit hätte, sich mit dem Virus anzustecken, dann wäre ihre Überlebenschance  doch höher als erst in fünf oder zehn Jahren. Zudem lebt mein Onkel noch bei ihr. Der könnte sich allenfalls um sie kümmern, wenn sie jetzt krank würde. In ein paar Jahren ist der dann vielleicht verheiratet…“ Das sind doch einfach keine Gedanken, von denen sich Kinder den Schlaf rauben lassen sollten!

Frau umarmt Kind
Mutter schützt Kind

Familien sind gefordert

Als Familienbegleiterin höre ich zudem von der Überforderung hochbegabter, hochsensibler Kinder. Je nach gerade aktuellen Massnahmen können sie ihre Strategien, mit der Überforderung umzugehen, nicht mehr anwenden. Bewegung, Musizieren, Spielen und Lernen mit ihresgleichen in Schule, Verein oder Hort sind durch Regeln beschränkt. Wichtige, geliebte Bezugspersonen wie Grosseltern oder Lehrpersonen fallen weg oder müssen sich distanzieren.

In kinderpsychiatrischen Praxen werden bei Kindern mittlerweile Symptome diagnostiziert, wie sie auch von Erwachsenen in Arbeitslosigkeit festgestellt werden. Antriebslosigkeit, innere Unruhe, Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen und andere psychosomatische Auffälligkeiten. Meine Wahrnehmung durch meine Tätigkeit an der Volksschule deckt sich damit und wird durch viele erfahrene Kolleg*innen bestätigt.
Für Eltern, Lehrkräfte und alle, denen das Wohl der Kinder am Herzen liegt, ist die momentane Situation, die noch lange andauern kann, eine grosse Herausforderung. Dazu kommen unter Umständen auch noch persönliche Aspekte wie Angst vor Arbeitslosigkeit oder Beziehungsprobleme..

Erwachsene sind in der Pflicht

Es ist die Pflicht der Erwachsenen, den ihnen anvertrauten Kindern so viel Geborgenheit und Sicherheit zu schenken, dass sie den Mut haben, ihre belastenden Gedanken zu erzählen. Wie das gelingen kann? Durch Nähe und Präsenz, durch Interesse, Zuhören und Nachfragen schafft man Geborgenheit. Gemeinsame Spaziergänge bringen Tapetenwechsel, Luftveränderung und neue Perspektiven. Als besonders wichtig erachte ich auch Spiel-Räume, in denen Kinder die Möglichkeit haben, im einfachen, handelnden Tun ihr Seelenleben nach aussen zu bringen. Besonders gut geht dies auch in der Natur, wo der Stock zum Symbol für Macht wird und vielleicht der Käfer das Virus personifiziert…

Hochbegabte Kinder Ideen entwickeln lassen

In der Familienbegleitung liegt der Fokus oft auch darauf, wie man es als Familie gut durch diese Zeit schafft und was jeder und jede Einzelne dafür braucht. Gemeinsames Ideenentwickeln, was hilfreich sein könnte, um das Zusammenleben, Arbeiten und Lernen zuhause erfolgreich zu meistern, bringt oft ungeahnte Ressourcen zum Vorschein. Manche Familien empfinden diese Zeit eine grosse Chance und begabte Kinder blühen auf und geniessen es, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten. Andere Familien erleben aber immense Belastungen: Beide Eltern im Homeoffice, eigene Ängste oder Sorgen um Angehörige, die Betreuung mehrerer Kinder und dann noch Schulaufgaben, die von den Kindern als langweilig erlebt werden. Diese Vermischung der Rollen und die Mehrfachbelastung hat viele Eltern in Konflikte gebracht.

Kinder entlasten


Manche (hoch-)begabte Kinder sind demotiviert sich mit den „Pflichtaufgaben“ auseinanderzusetzen und beginnen stundenlange Diskussionen mit den Eltern, was die Aufgaben auch nicht weniger werden lässt. In solchen Fällen macht es Sinn, den Fokus auf Ressourcen zu legen. Oft wissen Eltern und Kinder selbst schon Antworten auf die Frage „Wann klappt es denn am besten?“. Daraus ergeben sich oft kleine „Motivationsoasen“ für den Alltag. So kann es z.B. alters-, begabungs- und interessenabhängig helfen, wenn der Wochenrhythmus durch fixe Lese-, Spiel- und Forscherzeiten oder Experimente und Bewegung angereichert wird. Mehr Ideen dazu gibt es hier. Attraktiv kann es auch sein, nach Rücksprache mit den Lehrpersonen repetitive Aufgaben zu straffen und dafür regelmässig Knobeleien oder andere Herausforderungen einzubauen.

Eigene Projekte machen Spass

So hat sich zum Beispiel P., ein Erstklässler, entschieden, in der Corona-Zeit ein Projekt zum Thema «Ägypten» anzugehen. Ich wünsche es ihm, dass er sich traut, das Plakat bald einmal in der Klasse zu präsentieren! Insofern bietet die Corona-Zeit auch Raum für neue Erfahrungen und die Chance, sich der Stärken und (Lern-) Bedürfnisse von einzelnen Kindern bewusster zu werden. Mit einigen Familien habe ich deshalb eine Art von Ritual entwickelt. Einmal in der Woche erzählen sie sich gegenseitig, was worüber sie sich freuen, was besonders gut gelungen ist und worauf sie stolz sind. Ich hoffe, dass diese Gespräche sich über die Lebensdauer von Covid-19 hinaus etablieren können. Denn das ist es letztendlich, was das Leben wertvoll macht:
Genügend Dinge finden, an denen wir uns freuen und wachsen können!

Kind zieht Maske runter
Trotz Maske das Lachen nicht verlieren

[1] Back, Mitja u.a.: Emotions-Corona. Münster 2020; Prousa, Daniela: Studie zu psychischen und psychovegetativen Beschwerden mit den aktuellen Mund-Nasenschutz- Verordnungen. PsychArchives- http://doi.org/10.23668/Psycharchives.3135)

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