Zu intelligent, um glücklich zu sein? Eine Rezension

Zugegeben, das Buch „Zu intelligent, um glücklich zu sein?“ ist schon älter. Erstmalig publiziert wurde es 2017 im Goldmann Verlag, München. Die Autorin, Jeanne Siuad-Facchin, geb. 1957, ist Psychologin und Gründerin der Cogito Z-Zentren für hochbegabte Menschen, von denen sich eines in Genf, aber die Mehrheit in Frankreich befinden.
Das Buch wird durchaus zwiespältig rezensiert, aber mich spricht der Titel sehr an. Er ähnelt dem Namen meiner Beratungsstelle „begabt & glücklich“.

Zielpublikum

Das Buch richtet sich in erster Linie an erwachsene Hochbegabte, oder Leute, die sich als hochbegabt einschätzen. Allerdings denke ich auch, dass Fachpersonen und Eltern davon profitieren können.

Populärwissenschaftlich

Wer sich im Internet über dieses Buch informiert, stösst sehr schnell auf niederschmetternde Kritiken, die sich vor allem darauf begründen, dass “ Zu intelligent um glücklich zu sein?“ nicht wissenschaftlich geschrieben ist. Auch die Zitate stammen nicht aus wissenschaftlicher Primärliteratur sondern aus gängigen Werken der Beratung oder sogar Belletristik. Das ist wahr. Allerdings erhebt das Buch auch gar nicht diesen Anspruch.

„Zu intelligent um glücklich zu sein?“ ist äusserst gut verständlich geschrieben, es liest sich leicht und enthält weder trockene Fakten noch Studien. Ich finde dies ansprechend, weil ich viele Betroffene, aber auch Eltern, kenne, die andere Bücher zu diesem Thema wegen ihrer staubigen Sachlichkeit weggelegt habe.

Natürlich kann man der Autorin ankreiden, undifferenziert zu sein, weil, sie sich auf ihre vielen Praxisbeispiele stützt. Aber ich habe das Buch auch schon einige Male an meine Klienten ausgeliehen und diverse Rückmeldungen erhalten, dass Menschen sich in beschriebenen Situationen wiedererkannt haben. Ich denke, das ist auch der Zweck dieses Buches: Sich selber ein Stück besser verstehen und herausfinden, warum Dinge sind, wie sie sind. Dafür funktioniert das Buch perfekt.

Viel Erfahrung

Jeanne Siaud-Facchin kann als auf Hochbegabung spezialisierte Psychologin auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen. Wichtig ist es, beim Lesen im Hinterkopf zu behalten, dass längst nicht alle Menschen mit einem IQ >130 Anpassungsprobleme haben und sich in unserer Welt schlecht zurecht finden.
Spannend finde ich den Aufbau des Buches: Es beginnt mit der direkten Ansprache der Lesenden auf der Suche nach der Ich-Findung und dem Selbstbild. Wie ich beschäftigte sich die Autorin hauptsächlich mit begabten Kindern, bis sie merkte, dass auch Erwachsene sie auch eigenem Interesse auf das Thema ansprachen. Weil Intelligenz ja zu 50% vererbt ist, ist bei einem Kind mit Hochbegabung mit grosser Wahrscheinlichkeit auch ein Elternteil mit hoher Intelligenz gesegnet. Und dieser Elternteil war ja auch mal ein Kind.

Ich wage fast nicht, Ihnen das zu erzählen, aber manchmal macht sein Blick mir Angst. Ich hatte ständig das Gefühl, dass er mich bewertet.

Zitat einer Mutter über ihr Baby, in „Zu intelligent um glücklich zu sein?“, S. 70

Identifikation

Normalerweise identifizieren sich Kinder während ihres Entwicklungsprozesses mit ihren Eltern. Aber in meiner Praxis stelle ich wie die Autorin fest, dass bei ganz normalen Hoch-Potenzial Familien sich die Eltern oft in ihren Kindern wiedererkennen. Und ich weiss von Menschen, die genau dies auch beim Lesen von „Zu intelligent um zu glücklich zu sein?“ erleichtert erlebt haben. Gerade kinderlose Menschen, denen dieses Aha-Erlebnis mit eigenen Kindern fehlt, können viel von diesen Berichten in „Zu intelligent um glücklich zu sein?“ profitieren.
Vor allem Menschen, die frisch gebackene Eltern sind, sind oft überrascht, „wie anders“ als Gleichaltrige ihr Kind sich entwickelt und werden in diesem Buch empathisch an der Hand genommen.

Erwachsen zu sein bedeutet, das Kind, das man einmal war, bei der Hand zu nehmen.

Zu intelligent um zu glücklich zu sein?, S 104

Hochbegabte Erwachsene

Viele Hochbegabte entdecken erst spät, dass sie ein hohes Potenzial besitzen. Das sind dann meist die Angepassten, jene, die mit ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen „eigentlich“ gut zurecht kommen. Die Autorin erklärt auch, wie man der eigenen Hochbegabung auf die Spur kommt. Sie plädiert für eine Testung mit dem WAIS, dessen Version für Kinder zwischen 8 und 16 Jahren der WISC ist, den ich in der Praxis auch benutze. Allerdings relativiert auch sie den Wert einer psychometrischen Testung, weil diese eben auch störungsanfällig sind. Es braucht eben den „Gesamtblick“.

Kann man gleichzeitig weiblich und intelligent sein, ohne hässlich und wenig sexy zu wirken?

Zitat einer hochbegabten jungen Frau in „Zu intelligent um zu glücklich zu sein?,“ S 229

Probleme hochbegabter Frauen

Die Autorin beschreibt sehr ausführlich über die Herausforderungen der hochbegabter Frauen, mit ihren Zweifeln und Ängsten. Meistens gründen diese ja bereits in den frühen Kindheitsjahren. Mädchen nehmen sich in aller Regel viel mehr zurück als Jungs und ihre Hilferufe sind wesentlich besser getarnt, als jene der Jungs. Meiner Meinung nach gibt sie auch zu diesem Aspekt einen guten Überblick, der immer sehr nahe an der Praxis bleibt.

Zu guter Letzt

Zu intelligent um zu glücklich zu sein? ist ein Buch, das man easy in den Ferien unter dem Sonnenschirm lesen kann. Ebenso leicht kann man sich auch einfach einzelne Kapitel als Bettlektüre herauspicken. Ich finde es perfekt dafür, wenn Erwachsene ebenfalls ihrer Hochbegabung auf die Spur gehen wollen.
Wer für ausschliesslich für sein Kind Anregungen sucht, ist mit Lichtblicke für helle Köpfe von Joëlle Huser besser bedient. Und wenn es um Wissenschaft, Forschung, Statistiken, Coaching im Beruf oder Sonstiges geht, dann gibt es durchaus deutlich differenziertere und wissenschaftlich untermauerte Alternativen., wie z.B. das Handbuch Begabung von Victor Müller-Oppliger et al.

Schlagwörter: glücklich · hochbegabt · Intelligenz 

2 Gedanken zu „Zu intelligent, um glücklich zu sein? Eine Rezension

  1. Von: Fabrice Ricker

    Sie haben recht 😉

    Erstaunlich, wie eigentlich ignorant jemand auf die kommen kann, „niederschmetternde Kritik“ zu dem Buch zu schreiben. Ignorant, warum?
    Nun, ich denke, ein Detail, auf dem die Leserschaft nicht unbedingt kommt, ist die Tatsache, dass dieses Buch aus dem Französischen übersetzt wurde.
    Die französische Sprache, wunderbar für Lyrik und Romane geeignet, beinhaltet natürlich eine ganz eigene Herangehensweise an die Wissenschaft.
    Ich habe das andere Buch gelesen, in dem es nur um Kinder geht, und das noch nicht auf Deutsch übersetzt wurde. Allerdings, das ist meine Muttersprache, keine große Kunst. Aber auch da fand ich mich kulturell wieder. Ich kann natürlich gut verstehen, dass diese Sprachform für das deutsche Publikum irritierend ist. Diese zyklischen Wiederholungen, diese ausschweifende Wortwahl, es wird um das Thema herum geschnuppert, hier und da mit Auszügen aus der Praxis präzisiert. Es ist auch kein Thema, das man frontal und geradlinig gegenüber treten kann, insofern alles richtig.
    Sie haben es aber geschrieben: Man kann es portiönchenweise, als Nachttischlektüre etwas, aufnehmen.
    Interessant ist es, dass, wenn man das Buch fertig gelesen hat, ein diffuses Grundwissen darüber einem plötzlich gewahr wird. Und das ist die Hauptsache, hochbegabte (in deren so zahlreichen Facetten) werden wohl plötzlich … verstanden.

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    1. Von: Dina Mazzotti

      Danke für das Teilen Ihrer interessanten Gedanken!

      Herzliche Grüsse, Dina Mazzotti

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